Tom, der Straßenhund – eine wahre Weihnachtsgeschichte!

Traditionell senden wir am Weihnachtstag den ‚RespekTiere-Weihnachtsbrief‘ zum Nachdenken; 2021 allerdings war von so vielen mahnenden Worten geprägt, dass jetzt auch noch die unseren bestimmt mehr als entbehrlich sind! So haben wir uns heuer für einen anderen Weg entschieden. Für eine wunderschöne Geschichte nämlich, eine wahre, noch dazu. Eine Geschichte, die das Leben schrieb und die zeigt, wie einzigartig unsere Mitgeschöpfe sind – tatsächlich, egal wie hoch auch immer der Stellenwert ist, welchen wir ihnen beimessen, in der Realität überfliegen sie selbst den hochgegriffensten bei weitem.

Tom erzählt an dieser Stelle von einer Begegnung mit einem Straßenhund in Rumänien, welche sich vor einigen Jahren zugetragen hatte; kurz vor Weihnachten, in Fakt nur wenige Tage vor dem großen Fest, ist er dabei von diesem vor einer Verhaftung gerettet worden. Aber bitte lesen Sie selbst:

Für den Straßenhund Tom, den ich nie vergessen werden!

Sie lieben wahren Weihnachtserzählungen in der schönsten Zeit des Jahres? Dann habe ich hier wohl genau die richtige Geschichte! Die Erinnerung an das bewegende Schicksal von Tom, dem Straßenhund aus Craiova, ist in mir genauso lebendig ist, wie sie es damals war, als sich das Folgende zugetragen hatte; mit zittrig gefalteten Händen gedenke ich seinem edlen Herzen, welches mich einst im harten rumänischen Winter inmitten eines Schneesturms während einer Kundgebung vor der bevorstehenden Verhaftung gerettet hatte; es pochte lange Zeit unbesiegbar, und über viele, viele Jahre hinweg war mir danach noch die Ehre zuteil, diesen, meinen, durch und durch wunderbaren Freund immer wieder zu treffen. Ich durfte seinen Weg so lange begleiten, bis er alt und grau jenen antrat, den man dann ganz alleine gehen muss.

‚Gegangen‘ ist er aber nie wirklich, und manchmal meine ich ihn tatsächlich wiederzuerkennen, irgendwo auf den Straßen Rumäniens oder Bulgariens; aber schon im nächsten Augenblick entwischt er mir dann erneut, ganz so, als ob Tom nur hier und da ein sanftes ‚Hallo‘ sagen möchte; ein ‚Vergiss mich nicht‘, worauf ich dann stets antworte: ‚Bis wir uns wiedersehen, mein Freund‘; denn einen echten Abschied, den gibt es nicht! Es ist vielmehr ein Wechsel der Welten, der solange andauert, solange unsere Seelen noch nicht im Einklang mit uns selbst sind. Tom’s Station auf dieser Erde war demnach also sicher seine letzte; längst ist er eingegangen ins ewige Leben, ins Walhalla oder Nirvana, und dort wartet er nun hoffentlich auf mich. ‚Bis wir uns wiedersehen‘ eben, und wenn auch erst in tausend Jahren, dann, wenn auch ich endlich, endlich, endlich aus Fehlern gelernt und den Pfad der Erleuchtung betreten kann. Ja, ich habe ihn geliebt, so wie man einen Freund nur lieben kann, aus tiefstem Herzen, und ich werden ihn immer liebe, so viel steht fest!

Aurelia mit Tom

Foto: Tom, bereits von schwerer Krankheit gezeichnet, mit Aurelia

Aber begeben wir uns vorerst zurück zum Anfang der Geschichte; manchmal, ja manchmal passiert es aus dem Nichts, dass wir plötzlich und unvermutet auf engelsgleiche Wesen treffen, welche einen immerwährenden Eindruck in uns hinterlassen. Die unser ganzes Sein mit tiefer, unauslöschlicher Liebe erfüllen, uns praktisch im Vorübergehen, im bloßen Anstreifen, zu besseren Menschen machen, nur Kraft ihrer unvergleichlichen physischen Existenz. Genau einem solchen Wesen war es mir beschienen den Weg zu kreuzen. Und mein Engel hatte die Gestalt eines Straßenhundes angenommen…

Straßenhund Tom, der Schöne!

Der Straßenhund Tom war damals über Nacht vor dem Haus einer ganz besonderen Tierschutzaktivistin namens Aurelia aufgetaucht. Ob Zufall oder nicht, wer mag es bewerten? Denn Aurelia, welche all ihr schwer verdientes Geld in den Schutz der Ausgestoßenen investierte (und dies bis heute tut), war der wohl größte Glücksgriff im Leben des Armen; ja, Ausgestoßene, Heimatlose, gab und gibt es zuhauf in seinem Geburtsland, Geächtete, die niemals jemanden finden, der/die sich ihrer annimmt, der/die ihnen in ihrer so aussichtslosen Lage beisteht – und sei es nur mittels gelegentlichem Streicheln und der Gabe von Essensresten. Ja, Rumänien hat sich über die Jahrzehnte hinweg einen gar üblen Ruf im Umgang mit den Straßentieren ‚erarbeitet‘, hat die eigene Erde mit dem Blut der Unschuldigen geradezu getränkt. Man könnte verzweifeln an der Situation, und es ist mehr als verständlich, wenn jemand, der/die im Karpatenland den Mut aufbringt und diese verzehrende körperliche und vor allem seelische Konfrontation eingeht, sich nach Jahren der inneren Auseinandersetzung plötzlich nicht mehr in der Lage sieht weiterzukämpfen. Ein wahrhaft lähmendes Gefühl kann nämlich die Seele nach der unausweichlichen Bezeugung von so vielen Grausamkeiten befallen, langsam, aber mit unfassbarem Appetit. ‚Burn Out‘ – ein neu-deutscher Begriff, der seltsamerweise wie so vieles Modernes aus dem Englischen kommt und zum ‚Denglischen‘ wird (Deutsch-Englisch) – nennen heute die PsychiaterInnen das Resultat, den Endzustand. Ausgebrannt sein. Mit allen Auswirkungen, welche schließlich nur noch den totalen Rückzug zulassen. Weil nun selbst das Atmen schwerfällt, jede Bewegung bis tief in die Knochen schmerzt. Was bleibt in solchen Augenblicken über von all der Energie, der Aufbruchsstimmung, dem Kampfgeist? Leere, nichts als Leere. Unfähigkeit, den Tieren weiter zu helfen, schlimmstenfalls sogar sich selbst zu helfen.

Strassenhund Toms Rudel

Foto oben: Tom und sein so bemerkenswertes Rudel! Unten: links, die alte Regentin; rechts die wunderbare One-Eye!

Strassenhund was fuer ein Gesicht
One Eye ein Strassenhund

So nicht Aurelia, denn gegensätzlich zu vielen anderen TierschützerInnen im In- und Ausland zog sie sich weder zurück, noch hielt sie sich je mit bloßem Reden auf; sie sinniert nicht über die Schlechtigkeit der Welt, sie tut etwas dagegen! Zum Beispiel gründete die Tapfere unter anderem im Alleingang, ohne jede Unterstützung von außen, eine wunderbare Auffangstation für mehr als 100 Hunde und finanziert diese dann auch zu 100 % aus Eigenmitteln (vor einigen Jahren, bald nach Tom’s Tod, hat sie zudem ihr schönes Vorstadthaus verkauft und am Stadtrand, weit entfernt von jedweden Nachbarn, um nur ja nicht durch das unvermeidliche Bellen in unweigerliche Konflikte zu kommen, den langgehegten Traum eines ‚echten‘ Asysl für die Ausgestoßenen verwirklicht  – dass sie dort auch ‚alleine‘ bleibt, dafür sorgt die direkt hinter der Herberge vorbeiführende Bahnlinie. Tatsächlich hat die Gute ein großes Grundstück angeschafft; dort baute sie ein kleines Zuhause für sich und ein tolles Heim für ihre Schützlinge, wo sich bisweilen nun mehrere hundert davon aufhalten, Anm.)!

Straßenhund Tom im Schnee

Unser Held, ein geborener Charmeur wie er nun mal war, eroberte Aurelias Herz im Sturm; wie konnte es auch anders sein! Er wollte sein Leben allerdings nicht in der Enge einer Hunde-Herberge verbringen, egal, welche Vorteile ein solches Dasein auch immer bereithalten mochte. Aurelia hatte mehrere diesbezügliche Versuche unternommen, nur um den Wunderhübschen dann alsbald wieder zurück in die für ihn und seinesgleichen so gefährliche Freiheit zu bringen; sobald nämlich die Tore des Asyls verschlossen wurden, schienen alle Lebensgeister in Tom zu erlöschen; mit hängendem Kopf und einer Haltung, welche selbst hunde-unerfahrenen Menschen sofort zu verstehen gab: ich bin das unglücklichste Wesen der Welt! Kaum zurück auf der Straße erhellte sich der Ausdruck in seinen Augen im selben Moment, und glücklich wie eh und je ging er mit einer Bestimmtheit, welche unmissverständlich einen Plan erkennen ließ, seine Wege.

Strassenhund Tom bei Fuettern

Aurelia musste nun eine Entscheidung treffen; darin war sie immer gut, und so platzierte sie außerhalb ihres Hauses einige Hundehütten und legte entsprechende Futterplätze an – neben der ‚Versorgungsstation‘ im Hausinneren, wo sie sich ebenfalls ständig um 25 und mehr, meist behinderte, Hunde kümmerte, sowie ihres großen Tierheims nun das dritte lebensrettende, von ihr geschaffene Refugium! Bald hatten sich dort dann auch zwei weitere Vierbeiner eingefunden und Quartier bezogen – eine relativ junge Hündin, welche eines ihrer Augen eingebüßt hatte – warum und wie, wir werden es nie erfahren – sowie eine ältere Dame, deren Gesicht, so voller Narben und Schrunden, dennoch eine herzzerreißende Würde ausstrahlte, wie ich sie kaum jemals in irgendeinem anderen Wesen feststellen konnte. Die Drei bildeten schnell ein gar bemerkenswertes Rudel, bald unzertrennlich und weithin bekannt. Hier an diesem Platz hatten sie nichts zu befürchten, außer den vielen anderen Hunden aus der Umgebung vielleicht, mit welchen sie sich regelmäßige und teils heftige Territorialkämpfe lieferten. Jetzt aber, als eingeschweißte Einheit, fühlten sie sich nahezu unbesiegbar, und sie lebten in einem Zustand, der für Straßentiere wohl nur als ‚nahezu paradiesisch‘ gefühlt werden musste; waren sie doch frei wie der Wind, bekamen regelmäßig zu essen, hatten ein Dach über dem Kopf und, nicht zu vergessen, wurden noch dazu mit ständigen Streicheleinheiten durch Aurelia bedacht, welche sie sich genauso regelmäßig und gerne abholten! Natürlich, und darauf achtete ihre Beschützerin ganz besonders, blieben sie an diesem Ort unangetastet von den städtischen Hundefängern, wo sie im persönlichen Vorsprechen klipp und klar zu verstehen gab, dass diese drei Hunde ab jetzt zum Haus gehörten! Aber das Allerwichtigste: sie hatten ein Heim, einen Platz, der in ihrem Ermessen nur ihnen gehörte! Ich werde nie vergessen wie sie uns bei den Hilfsfahrten – oft lag ein halbes Jahr und mehr zwischen diesen – derart stürmisch begrüßten, ganz so, als ob wir nie weggewesen! Wie sehr hatte ich das Trio ins Herz geschlossen, aber Tom, der nahm dort dennoch einen ganz besonderen Platz ein. Er war mein Tom, mein Herzensbruder, ja, ich möchte das Wort nicht überstrapazieren, aber er war ein echter Seelenverwandter. Nicht zuletzt sollte er ja auch nach mir benannt sein, von Aurelia so getauft, weil er zum einen genau in jenen Tagen das erste Mal aufgetaucht war, wo wir gerade Hilfsgüter zu der so herzensguten Tierschützerin brachten, und zum anderen, weil sie die unauslöschliche Harmonie zwischen uns offensichtlich sofort erkannte! 🙂

Aurelia und Tom

Sei es wie’s sei, leider wandelt Tom heute nicht mehr unter uns; er hat längst seinen so wohlverdienten Platz eingenommen inmitten jener, deren irdisches Dasein eine leise Ahnung zu vermitteln vermochte vom immer gesuchten ‚Sinn des Lebens‘. Derart fasziniert war ich von diesem so einzigartigen Straßenhund, dass ich bis zum heutigen Tag kaum an ihn denken kann ohne eine Träne zu vergießen. Tom, der Unvergessliche, der unbeirrbare Freund, der, der jeglichen vermeintlichen Unterschied zwischen den Arten, zwischen Mensch und Tier, mit einem einzigen Aufschlag seiner treuen Augen wegzuwischen imstande war.

Dies hier ist ein Nachruf, ein schwacher Erklärungsversuch, warum Hunde unsere Herzen so sehr zu bewegen vermögen. Das Geschriebene ist eine Symphonie an ihn, die, egal wie auch immer verfasst, dennoch nicht selbst nur den Hauch jener Gefühle wiedergeben wird können, welche Tom in mir entfacht hatte. Hunde, die bekommen leider keine Denkmäler, oder nur ganz selten; dabei hätten sie jede Ehrung so sehr verdient, denn letztendlich, da haben sie die unfassbarenGabe, jeden von uns zu einem besseren Menschen zu machen – wenn wir sie nur nahe genug an uns heranlassen.

Tom war ein Straßenhund, einer jener Abermillionen selbst im ach so reichen Europa, welcher unter Aufbietung aller Kräfte tagtäglich irgendwie ein bloßes Überleben in zumeist trostloser und für ihn stets mit mannigfaltigen Gefahren gespickter Umwelt bewerkstelligen musste.

Er verkörperte nach den Maßstäben all unserer wahnsinnig gescheiten Bücher und Normen vielleicht nicht auf den ersten Blick zwingend und unbedingt das gängige Schönheitsideal, aber ohne jede Frage war er für alle, die ihn nur ein bisschen genauer betrachteten, ein ganz und gar wunderschöner Hund, mit einer wahren, inneren Vollkommenheit gesegnet, einer solchen, die sich mit keinem Geld der Welt erkaufen lässt. Sogenannte ‚Role Models‘ verkörpern in unserer durch und durch kategorisierten Welt der Normen und Wertungen ohnehin nur ein narzisstisch angehauchtes Wunschbild, zu glatt und künstlich, um in der Realität überhaupt nur Halt zu finden! Im Gegensatz dazu war es bei Tom so, dass sein bloßer Anblick genügte, um den/die BetrachterIn glücklich zu machen, ungeachtet deren oder dessen vorherigen Gemütszustandes – und wer kann derart Wundervolles sonst noch von sich behaupten?

Straßenhund Tom und One-Eye

Mit einem Löwenherz beschützte er seine beiden Begleiterinnen und verteidigte sein Revier vor Aurelias Haus gegen das Eindringen anderer Hunde aus der Nachbarschaft. Zu Beginn der gemeinsamen Reise stand Tom auf der Rangleiter noch auf Platz zwei, doch hatte er die Führungsposition langsam übernommen, nachdem seine Gefährtin zusehends alt – für einen Straßenhund uralt – geworden war; sie, noch immer die Schönheit in Person, jeder ihrer nicht mehr ganz so federnden Schritte in unfassbarer Gelassenheit und mit Überlegung getan, mit einem Gesicht versehen, wo selbst die kleinste und unbedeutendst scheinende Nuance den harten und gewalttätigen Alltag genau wie die absolute Weisheit des Lebensabends widerspiegelte. Die Regentin, sie übergab von einem Tag zum nächsten ihre Führerschaft, wohl wissend, dass die Last der Jahre sie längst unsicher gemacht hatte. Kein Kampf, nicht einmal ein Streit; einfach nur ein bedachter Rücktritt, ein Weiterreichen. Kein zufälliges Gespann, keine Schicksalsfindung – vielmehr Familie. One-Eye als dritte im Bunde, ein Name wie ein Auftrag, hatte sie doch ihr rechtes Auge in irgendeiner Auseinandersetzung verloren; mit ihren gerademal 2 Jahren der Jungspund im Trio, der jugendhaften Leichtigkeit jedoch durch die Härte des täglichen Lebens längst beraubt.

Tom mit Eindringlingen

Foto: Tom, der Wunderbare! Hier schlichtet er Streit mit einem eindringenden Rudelführer!

So lange hatten wir überlegt, so oft, ob wir Tom nun nach Westeuropa mitnehmen sollten; die Entscheidung vor uns hergetragen wie einen bleiernen Mantel, sah er doch stets so glücklich aus in seinem Umfeld. Und, nicht zu vergessen, er und die seinen wurden doch auch von Aurelia tagtäglich gefüttert und umsorgt – um wieviel großartiger würde es ihnen in Österreich oder Deutschland dann wirklich gehen können?  Wäre es unter den Umständen nicht besser, Hunden diese Chance zu geben, deren Schicksal ein beträchtlich schlimmeres war? Tom und die seinen, sie hatten hier jede Menge Freunde, Menschen und andere Straßenhunde, waren bestens versorgt, integriert und zudem geschützt selbst vor den Hundefängern – wenn sich doch solche hierher verirren würden, sie würden wissen von der Unantastbarkeit des Trios. Warum also sollten wir sie aus der fast perfekten Welt entführen? Ja, Restrisiko Straße, das wäre ein Argument gewesen. Aber der schmerzende Gedankengang, Tom könnte sich später an Orten desinteressierter oder gar fauler Menschen wiederfinden, welche ihn in eine Stadtwohnung sperren und vielleicht dann auch noch nur eine Stunde oder gar weniger am Tag ausführen – nein, mit dieser Vorstellung, da konnten und wollten wir nicht warm werden.

Jener Abend der angesprochenen Kundgebung; Schneesturm in Craiova, die Straßen gehüllt in das unwirklich anmutende gespenstische Licht der wenigen Neonröhren. Unaufhörlich fielen Schneemassen vom Himmel, hüllten das geplagte Land in ein Tuch aus weichem Schweigen; im Scheinwerferkegel der Autos, dampfender Qualm entwich den Kanalrohren, wirkt die Szenerie um das tanzenden Weiß, gepaart mit dem mattgelben Schein der Beleuchtungskörper, wie der Beginn der alles verzehrenden Apokalypse. Beobachtete man genau den sich ins Nichts auflösenden Horizont, so glaubte man sie fast zu erkennen, deren Reiter, auf der allerletzten Mission.

Protest in Craiova

Im Kostüm Gevatter Todes, mit der zerschlissenen EU-Fahne um die Schultern, in der Hand eine Sense und in der anderen einen Hund aus Stoff, (kunst-)blutgetränkt und an einer langen Kette; über meinem Kopf zwischen den Laternenmasten festgebunden im bitterkalten Wind, der gnadenlos ein Flockenmeer vor sich hertrieb, wehte das Transparent ‚Death Penalty For Innocents? EU: Stop The Killing Of Straydogs (Todesstrafe für Unschuldige? EU: Stoppt das Töten von Streunerhunden)’. So saß ich an einer belebten Kreuzung und beobachtete die Fahrzeuge, wie sie hastig einem Ziel folgten durch das gefrierende Etwas; wie sie sich dabei immer mehr in einen  immer aussichtsloser scheinenden Kampf verstrickten, um nur ja nicht den Kontakt zur schneeglatten Fahrbahn zu verlieren.

Die Präsentation in Totenkopfmaske und wallender Robe erregte sehr schnell die Aufmerksamkeit der VerkehrsteilnehmerInnen. FußgängerInnen hielten, beobachteten die unwirkliche Kulisse, ließen sich mit Gevatter Tod fotografieren. AutofahrerInnen hupten, zeigten Reaktion, fast immer hoch erfreut, manchmal auch wütend, erbost. Hier und da ein hochgestreckter Mittelfinger. Was aber ebenfalls überhaupt nichts ausmachte, ganz im Gegenteil – ein richtiger Protest ist es doch immer nur dann, wenn er Gemütsregungen hervorruft; und selbst hitzige, gar aggressive, sind mir persönlich bei weitem lieber als überhaupt keine Emotionen. Verraten derartige Gefühle doch ein inneres Auseinandersetzen der ProtagonistInnen mit der Thematik, ein Auseinandersetzen, welches vielleicht später in das gewollte Nachdenken mündet!

Straßenhund Tom beim Protest

Eine Stunde saß ich wohl schon hier, vielleicht auch schon eineinhalb oder zwei. Der Frost hatte mein Zeitempfinden bereits abgetötet, mit seinen eisigen Fingern umgarnte er mich, versetzte den frierenden Aktivisten in einen erstaunlich tranceähnlichen Zustand. Gerade überlegte ich zusammenzupacken, versuchte den sich inzwischen auf der Kleidung häufenden Schnee wegzuwischen, um den Protest nach bitterkalten Stunde zu beenden; allein, das Schicksal kam mir zuvor. Denn plötzlich, aus dem absoluten Nichts, erschien eine übereifrige Polizei-Einheit. Ganze drei Mann, offensichtlich wütend, vielleicht darum, weil sie wegen eines Tierrechtsaktivisten und trotz der unnachgiebigen Tiefsttemperatur einen Einsatz tätigen mussten; weil sie gerade jetzt, inmitten des Schneegewühls und des beißenden Frostes die Wärme des Postenzimmers mit dem Inferno aus Eis und Schnee zu tauschen hatten. Im harten Befehlston der russischen Schule schmetterten sie mir dann auch schon im nächsten Moment betont regimetreu wirkenden Worte entgegen, welche wohl so etwas wie eine Ausweiskontrolle (der man im Osten, anders als bei ‚uns‘ zu Hause, am besten lieber ohne Einwand nachkommt, zumindest, wenn man der Sprache des Gegenübers nicht mächtig ist) verlangend. Ihre Kommandos waren dabei scharf wie Chillie, ohne jegliches Entgegenkommen, ohne Verständnis für die Aktion. Sie lasen zwar die Botschaft, dennoch sollte keinerlei Betroffenheit in den Gesichtern abzulesen sein. Beleidigungen fielen, verächtliche Verhöhnung; ‚Mockery‘, ‚Possenspiel‘, ist das Wort, welches ein Beamter für einen solchen Protest fand (‚Mockery‘ ist mir deswegen so gut in Erinnerung geblieben, weil ich doch einigermaßen überrascht war, dass dieses Wort fiel – es setzt ja ohne Frage eine gehobene Wortschatzkenntnis voraus (ich gebe es zu, mir war es zuvor nicht bekannt gewesen – ich merkte mir den Ausdruck aber und schlug später im Wörterbuch nach – heute, wenn es ‚passt‘, prahle ich in Konversationen gerne mit dem Wort:)); übrigens, ich denke, er meinte damit wohl nicht speziellen diese Kundgebung hier vor seinen Augen, es dürfte wohl mehr eine allgemeine Feststellung gewesen sein, ganz nach dem Motto ‚langhaarige Weltverbesserer, Ruhestörer, welche die öffentliche Ordnung durcheinanderbringen‘); Wortduelle, sich steigernd; letztendlich, so las man es nur zu deutlich aus der Mimik, stand die Verhaftung unmittelbar bevor. ‚Zusammenpacken und Mitkommen‘, lautete auch schon das Urteil, Widerspruch nicht geduldet.

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Und da tauchte er auf, aus dem Nichts, nebelumhangen, aus einer Wolke gebildet von Schnee und Kälte – Tom! Hunderte Meter von zu Hause, dort, wohin er sich sonst praktisch nie begab. In fremdes Revier. Dennoch war er gekommen, gekommen um zu schlichten. Wie selbstverständlich drängte sich der Gute zwischen die Beamten, sprang im nächsten Wimpernzucken am Aktivisten hoch, schleckte über die Totenkopfmaske. Ich konnte in seine Augen sehen, und ich schwöre bei allem Heiligen, dieser Hund, der wusste genau, was er da tat. Kein Zufall, kein ‚weil ich grad in der Gegend bin‘, pure Selbstverständnis. Gekommen, um zu helfen, eine durchaus heikle Situation durchschauend. Ein Vermittler, ein Mediator, ein – Engel, geboren aus den Atem des Winters.  

Tom und die Polizei

Foto, buchstäblich aus der Hüfte ‚geschossen‘; Polizei im Einsatz – da taucht Tom aus dem Nichts auf und springt auf meinen Oberschenkel!

Im selben Augenblick hellten sich die Minen der Polizisten auf, nun waren sie offensichtlich tief betroffen, geradezu berührt; ‚This dog knows you‘, sagte einer im oft so hart klingenden Ost-Englisch-Akzent, ‚He knows what you are doing here, doing it for him!‘ Erstaunt traten die Uniformierten einen Schritt zurück. Wie zur Bestätigung schmiegte Tom nun seinen Kopf, kleine Eiszapfen hatten sich überall in seinem Fell gebildet, in den Schoß des Sensenmannes, bestach die Polizisten zusätzlich mit seiner unnachahmlichen Körpersprache; schließlich stützte er sich auf meinen Oberschenkel ab und küsste ein inzwischen demaskiertes, gefrorenes Gesicht – worauf sich die Gesichtszüge der Amtsorgane in selbiger Sekunde gänzlich entspannten! Die Hülle aus Stein brach, aufgeweicht von purer Liebe. Ausweise wurden zurückgegeben, ‚Go on‘ lautete der neue Befehl, untermalt mit einem sanften Lächeln, und beim Weggehen meinte einer nun gar beinahe fürsorglich: ‚But take care, cause it’s really cold today!‘.

Tom hat es geschafft die Polizei zieht ab

Foto: Tom beobachtet den Abzug der Polizei – dann, nach getaner Arbeit, verschwindet auch er im dichten Schneetreiben!

Es dauerte einige Minuten bis ich meine Fassung zurückerlange; dieser mutige kleine Kerl hatte tatsächlich die Herzen der Polizisten erweicht – sie würden die Geschichte zu Hause erzählen, würden davon sprechen wie Tom eine angespannte Situation auf unglaubliche Art und Weise durch und durch ‚menschlich‘ löste. Vielleicht hatte der so allerliebste Streuner dazu beigetragen, ihr Verständnis für seinesgleichen zu überdenken, die tägliche Tragödie auf Craiovas Straßen künftig mit anderen Augen zu sehen! Als die Drei längst wieder im Auto Platz genommen und von der Finsternis aufgesogen wurden, entfernte sich auch Tom.

Das Ganze war nur ein paar Tage vor Weihnachten passiert und ließ mich innerlich zutiefst überwältigt zurück. Wenn ich heute an das größte Fest der Christenheit denke, dann ist es nicht die Krippe, der Stall, Maria und Josef, das Jesuskind, was mir zuallererst in den Sinn kommt; es ist Tom, der Straßenhund. Und so wird es vermutlich immer bleiben, bis zum Rest meiner Tage. Das Fest der Liebe, durch nichts besser, intensiver versinnbildlicht als durch einen vierbeinigen Engel. In Hundegestalt zur Erde geschickt. Einfach nur wunderschön!

Straßenhund Tom beim Protest

P.S.: Die Geschichte von Tom, dem Straßenhund, ist auch in Jürgen Teipels wunderbaren Buch ‚Mittagsschlaf mit Murmeltier -Erstaunliche Beziehungsgeschichten‘ verewigt, genau wie dutzende andere auch, dem Autor von Menschen berichtet, welche besondere Erlebnisse mit Tieren hatten. So durfte ich Jürgen auch jene besonders herzzerreißende aus Mauretanien erzählen, wo ein Esel stunden-, tagelang neben seinem sterbenden Freund ausharrte – ein ‚Nr. 1 – Buch-Tipp‘!!!

https://www.amazon.de/Mittagsschlaf-mit-Murmeltier-Erstaunliche-Beziehungsgeschichten/dp/3423262907/ref=sr_1_1?adgrpid=71107395356&gclid=CjwKCAiAn5uOBhADEiwA_pZwcPpgSFdm1F1Se-r628i4ls1DLfI41v66d_6tGdGtHcYDNz72BkXGCxoCvC8QAvD_BwE&hvadid=352755514938&hvdev=c&hvlocphy=9041664&hvnetw=g&hvqmt=e&hvrand=8456978511725597478&hvtargid=kwd-300799335104&hydadcr=27928_1737052&keywords=j%C3%BCrgen+teipel&qid=1640423183&sr=8-1

Tom’s Story wurde dann auch in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht und avancierte dort zu der dritt-meist-gelesenen in der Rubrik ‚Tiergeschichten‘!

Wir wünschen Euch allen aus tiefstem Herzen ein gesegnetes, tierleidfreies Weihnachten und ein 2022, wo wir gemeinsam für die Rechte der Tiere ganz viel erreichen können – und erreichen werden!!! Warum wir das wissen? Weil wir niemals aufgeben und unermüdlich weiterkämpfen! ‚Yes, we do!‘

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