….die dunkelste Stunde vor dem Sonnenaufgang

Am Weg zur Wasserstelle, dieses Mal weit außerhalb, an den Rändern der expandierenden Metropole gelegen, mache ich aus dem Auto heraus ein paar Bilder. Mehr zufällig. Warum auch immer, eines schaue ich mir am Bildschirm dann auch gleich an – und da ist ein Esel erkennbar, der am Boden liegt, den Anforderungen des Lebens w/o zu geben scheinend. Selbst wenn der Anblick für sich alleine schon ein fürchterlicher ist, es kommt schlimmer. Ein Zweiter steht daneben, stupst ihn deutlich erkennbar mit seiner Nase, möchte ihn zum Aufstehen bewegen!
Dr. Dieng, bitte halten Sie an, wir müssen zurück! Anders als wir es aus Europa gewohnt sind, dreht der Arzt einfach am Straßenrand, denn die Gegenfahrbahn ist abgetrennt – doch die benötigt er gar nicht. Zuerst geht es nun an der Piste neben dem Verkehrsweg entlang, dann, als Fahrzeuge und Fußgänger im Wege stehen, eignet er sich wie selbstverständlich wieder die Fahrspur an, jetzt aber in verkehrter Richtung. Als Geisterfahrer bewegen wir uns nun im Stoßverkehr, über bestimmt 200 Meter hinweg!
Dann sehen wir das Duo; der Freund des Sterbenden steht wie angewurzelt an dessen Seite, mag die Realität nicht akzeptieren. Aber die spricht eine klare Sprache; ein offener Beinbruch, der Knochen ragt aus dem Unterschenkel. Hoffnungslos. Ein tobender Orkan im Kopf. Dazu der Treue, der ihm selbst im Tode noch beisteht. Gibt es Schrecklicheres zu bezeugen?
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Als wir aus dem Auto steigen, entfernt sich der Freud; er wandert aber nur zum Mittelstreifen, dort bleibt er stehen und beobachtet die Szenerie. Ob da Hoffnung aus seinen Augen spricht, Hoffnung, dass wir dem Kameraden vielleicht doch irgendwie helfen können?
Leider aber müssen wir ihn enttäuschen, einmal mehr; so wie ihn Menschen stets enttäuscht haben, missbraucht, geschlagen, des Sinnes im Lebens beraubt. Fest steht, bis auf Schmerzmittel gibt es nichts zu verabreichen. Der Arme ist dem Tode geweiht, wäre es auch in unseren Ländern, die Verletzung zu schwer, um auch nur einen Funken Zuversicht zuzulassen.
Dr. Dieng telefoniert hastig, ob denn nicht ein Polizist kommen könne, der den Gnadenschuss setzt? Einschläfern, wir sind wieder beim alten Problem, geht in diesem Land nicht ohne das Einverständnis des Halters. Und ein solcher ist weit und breit nicht zu sehen. Wir würden es in diesem Falle trotzdem tun, ohne über die Konsequenzen nachzudenken; aber das besonders Tragische – es sind keine geeigneten Medikamente verfügbar.
Können Sie sich in diese Situation hineinversetzen? Es ist wie ein heftiger Schlag in die Magengrube, ein Flehen im Inneren, losgebrochenes Fegefeuer. Warum, schießt es mir durch den Kopf, habe ich den Esel überhaupt gesehen? Nun, da wir im Moment sowieso nicht helfen können, warum muss der Geist derart gequält werden? Im nächsten Augenblick aber folgt die Scham auf den Fuß; was sind eigene Gefühle im Vergleich zum unfassbaren Schmerz, welchen dieses Wesen durchzumachen hat? Im Vergleich dazu, was im Freund vorgehen mag, der vielleicht schon seit Stunden an der Seite harrt, im Begriff, das Einzige, was ihm diese Welt je gegeben hat – einen Kameraden – auf gar schrecklichste Weise zu verlieren?
Irgendwie schaffen wir es den strebenden zur Seite zu bewegen. Einer der hunderten Bauarbeiter, der Boss der Gruppe, welche im Hintergrund mit Aushubarbeiten beschäftigt sind, verspricht, er wird alles Mögliche unternehmen, um eine Erlösung herbeizuführen. Er kennt hohe Beamte, meint er, und die würden eine Erschießung erwirken. Dr. Dieng gibt seine Nummer, wir sollen angerufen werden, sobald er etwas erreicht hat.
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Wir fahren nun weiter, zur Wasserstelle. Aller Mut, aller Elan, alle Vorfreuden auf die Hilfe, die wir dort bringen werden, wie weggeblasen. Stille. Nur Stille und Schmerz. Einmal noch blicke ich in den Rückspiegel, mit Tränen in den Augen, und da kann ich ihn sehen, den Knochenmann, wie nur zwei Meter vom Esel entfernt im Sand hockt. Mit ruhigem Blick beobachtet er den hoffnungslosen Kampf, im Wissen, er wird es sein, der den Schwerverletzten alsbald seine Hand auflegt und sanft an seinen Nüstern saugt. Dann wird ein Zucken durch den malträtierten Körper gehen, die Verkrampfung wird sich lösen, und der Arme wird aufstehen. Gevatter Tod wird ihn anweisen ihm zu folgen, und gemeinsam werden sie sich auf dem Weg machen, die Straße hinunter, zunehmend vom aufgewühlten Sand aufgesogen, sich im flirrenden Horizont auflösend.
Der Kamerad wird zurückbleiben, ganz alleine, niedergedrückt von der Wirklichkeit mit eisernen Faust. Er wird ein letztes ‚Goodbye‘ flüstern, keinen Halt mehr im Hier und Jetzt, und nur ein Wunsch wird der seine sein: ihm so schnell als möglich nachzufolgen in eine Welt, die sich dem Jenseits entzieht, und die nur Besseres für ihn bieten kann. Gevatter Tod, bitte beeile Dich…
 
Die Arbeit an der Wasserstelle gestaltet sich extrem anstrengend. Der Stadtteil ist ein besonders armer, dutzende Kinder sind vor Ort, in eine Schule gehen sie alle nicht. Dafür bleibt keine Zeit, in einem Umfeld, welches auf Überleben programmiert ist.
Schreckliche Fälle von Hufverformungen sind zu behandeln. Wie sich die armen Tiere überhaupt noch fortbewegen konnten, noch dazu eine schwere Last ziehen, ist entzieht sich unserer Vorstellung.
Auch ein Pferd wird gebracht, abgemagert bis auf die Knochen. Und wieder überall Hunde. Kinder sind manchmal wirklich grausam, so zum Beispiel machen sie sich über einen Knirps lustig, der eine Brandwunde im Gesicht hat. Dann wieder schlagen sie wie aus purer Langeweile auf einen Esel ein oder jagen einen Hund. Entsetzlich.
Allerdings, und das bestätigt auch Dr. Dieng, trotz des hier Gesehenen, der Trend in Mauretanien geht ganz eindeutig in eine andere Richtung. So viele Esel in halbwegs gutem Zustand wie in diesem Jahr haben wir überhaupt noch nie gesehen, gar keine Frage. Sie werden besser behandelt, aber auch besser gefüttert. Und viele Menschen kümmern sich um Hunde, auch diese Entwicklung ist augenscheinlich.
Kappen oder Sonnenbrillen zu verteilen entwickelt sich zu einem Spießrutenlauf; dutzende Kinder drängen plötzlich, man muss höchste Vorsicht walten lassen, dass nicht ein schlimmer Streit unter diesen ausbricht.
Wir fahren noch zu einer weiteren Wasserstelle. Auch dort dasselbe Bild. Immer im Kopf ist der sterbende Esel.
So fahren wir dann zurück zu ihm. Kein Anruf ist eingegangen. Von weitem schon erkennbar, der zweite Esel steht noch immer an seiner Seite, leckt das verletzte Bein.
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Es gibt keine Wahl. Wir müssen schnellstens ein Mittel besorgen, aber nur eine einzige Apotheke in der Stadt stellt es eventuell zur Verfügung. Allerdings nur unter schwierigsten Voraussetzungen, aber: Dr. Dieng kennt den leitenden Beamten. Der wird es uns aushändigen.
Doch die Enttäuschung klebt an diesem Tag am Hosenbein. Der Mann ist krank, kommt erst morgen wieder – was auch heißen kann, nächste Woche.
Es nützt alles nicht, wir fahren zur Herberge zurück. Dr. Dieng wird am Nachmittag alle Hebel in Bewegung setzen, um an das Mittel zu gelangen.
Im Hotel wartet Zappa bereits auf uns; mit ihm ist Artis, der Kalligraph. Und er hat den Entwurf fertig, die Schilder sehen gut aus! So geben wir eine Anzahlung, bei Lieferung ist der Rest zu bezahlen. All dies ist im Moment aber sowieso nur nebensächlich…
Am Nachmittag kommt der Anruf – Dr. Dieng wird das Mittel tatsächlich erhalten. So holt er uns schließlich wieder ab, der lange Tag läuft auf sein todtraurigen Finale zu.
Vor der Apotheke gilt es zu warten; es ist Gebetszeit und jede Störung wäre nun äußerst unangebracht. Allerdings sitzen wir auf Nadeln, denn die Sonne hat die Horizont nun längst wiedererobert und brennt mit aller Kraft vom Himmel. Wie schrecklich muss das Leid des Esels spätestens jetzt sein…
Endlich ist es soweit; mit dicken Handschuhen füllt der Apotheker den Stoff in einen Plastikbecher; eine Menge, die ausreicht, um zig Menschen zu töten, erfahren wir. Niemand anderer als Dr. Dieng hätte die grauenhafte Substanz erwerben können, nur ihm vertraut der Akademiker. Wie gut, dass wir solche Leute im Team haben!
Jetzt, die Dämmerung setzt langsam ein, stürzen wir uns in den absoluten Wahnsinn; der Spätnachmittagsverkehr ist ein unvergleichliches Ereignis, für EuropäerInnen fern jeder Vorstellung. Wie im berühmten Tetris-Spiel, wo fallende Formen passend aufgereiht werden müssen, bewegt sich die Kolonne voran – völlig ungeachtet jeder Ampel, ein Fahrzeug fährt gerade, das links- oder rechtskommende (und oft nicht einmal ein solches, sondern eines von irgendwoher aus einer unbefahrbaren anmuteten Piste plötzlich auftauchend) füllt die entstehende Lücke, ein Brei aus verrostetem Blech und stinkenden Abgasen. Kleine Unfälle sind vorprogrammieret, passieren, ohne dass überhaupt wer wirklich Notiz davon nimmt.
Dann erreichen wir den Zielort; un- un- unfassbar, der Freud des Esels steht noch immer neben dem Sterbenden, wie ein Krieger im Wind, gebeugt und von den Wettereinflüssen gezeichnet, aber ungeachtet all dessen stupst er die Seite und leckt weiter die Wunden des so schwer Verletzten. Es gibt keine Beschreibung hierfür; nichts würde dem gerecht werden, was der Anblick für mitfühlende Herzen bedeutet. Fast 10 Stunden nach dem ersten Zusammentreffen, wahrscheinlich schon Stunden zuvor, hat er an dessen Seite gewacht, ohne Wasser, ohne Essen, der prallen Sonnen schutzlos ausgeliefert. Hat den vorbeibrausenden Verkehr getrotzt, die zerfallenden Fahrzeuge nur wenige Zentimeter neben sich. Es ist eine schwere Stunde, eine herzzerreißende. Eine jener, die man so nie erleben möchten, nicht in tausend Jahren, eine jener, deren Dramatik kein noch so gut gemachter Hollywoodblockbuster je nachvollziehen wird können.
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Dr. Dieng muss jetzt noch einen Transportfahrer anwerben, erst dann kann die furchtbare, aber furchtbar notwendige Tat selbst erfolgen. Der tote Körper darf nicht auf der Straße liegen bleiben, zu groß die Gefahr, dass sich jemand gütlich daran tut und sich dabei vergiftet. Damit sind dann nicht Hunde oder Katzen alleine gemeint…
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bestimmt eine Stunde oder länger, bis der letzte Weg begangen werden kann. Währenddessen reichen wir dem armen Wasser, zuerst mit einer Flasche, dann bringt jemand ein Gefäß. Mit hastigen Zügen trinkt der Esel, es werden seine letzten Tropfen Wasser sein. Aber wenigstens haben die verbleibenden Minuten im Diesseits doch noch eine kleine Versöhnung gebracht, ihm doch noch gezeigt, dass Menschen auch anders sein können. Wir halten seinen Kopf, streicheln den geplagten Leib, der Freund steht unverändert nebenan, wie ein Fels; verlässt ihn nicht, trotz der angsteinflößenden Situation, von so vielen vermeintlichen Peinigern umgeben. Auch er trinkt nun, leckt dann weiter an den Wunden des Kameraden. Inzwischen hat sich eine Menschenmenge versammelt, auch viele Kinder sind dabei. Und das ist gut so; vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren sie echtes Mitgefühl mit den Tieren, sie sehen unsere Tränen, spüren die Verzweiflung. Die Atmosphäre ist eine gespannte, und im Gegensatz zu den sonstigen Arbeitsplätzen wird es schnell gespenstisch leise rundum, kein Gelächter, kein Scherzen stört die nahezu andächtige Ruhe.
Jetzt bereitet Dr. Dieng mit dicker Gesichtsmaske das Mittel zu; über einen Gaskocher wird der tödliche Staub erhitzt, später mit Flüssigkeit vermischt. Ich wage nun kaum zu Atmen, wende den Kopf nicht mehr vom Esel ab; halte ihn fest, streichle über die Nüstern, flüstere stockende, aber hoffentlich beruhigende Worte. Bitte um Verzeihung, um Verzeihung für uns alle. Bete. Dr. Facharani tut dasselbe, Moussa daneben, tief ergriffen. Mit aller Professionalität setzt Dr. Dieng die erste Spritze. Ketamin, ein Betäubungsmittel, breitet sich in den Adern des Todgeweihten aus. Glasklare Flüssigkeit durchläuft den angespannten Körper, beruhigt die Muskel. Ein kurzes Abwarten. Der Esel atmet tief und fest, die Bewegungen langsamer und langsamer werdend. Der Luftzug aus seinen Nüstern wirbelt Staub auf. Dann ist es soweit – die Nadel sticht zu, durchdringt die dicke Haut im Bruchteil des Wimpernschlages, und jetzt fließt die weißliche Flüssigkeit direkt in das Herz. Die Zeit steht still. Einen Augenblick, der zur Ewigkeit mutiert. Irgendwo über uns weint ein Engel bittere Tränen; es ist sein Schutzengel, der nur einen verdammten Moment abgelenkt gewesen war, gedankenverloren. Als das Auto in die Seite des Esels stieß. Sein Aufschrei war bis in die Unterwelt zu hören, selber Schmerz, der den Schützling wiederfuhr, sticht ins Innere des geflügelten Wesens. Der Aufprall von 100 Pferdestärken, nichts hat der kleine Eselkörper dieser Wucht entgegenzusetzen. Der Himmel ein Inferno, verfinstert sich, das Tier zu Boden geworfen, mit unvorstellbarer Heftigkeit; ein fürchterliches Knacken, als der Schenkel brach. Das offene Bein, der Knochen ragt heraus, es ist ein Stachel im Fleisch des Götterboten. Ein unverzeihlicher Fehler, mit welchem er nun in aller Ewigkeit leben wird müssen.
Noch bewegt sich das Augenlied des Sterbenden, ein letzter Wimpernschlag. Dr. Dieng setzt eine zweite Spritze. Die Füße gestreckt, erstarrt der Körper. Das Licht in den Augen, es erlischt wie eine Kerze im anbrausenden Sturm.
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Sein Freund steht noch immer da, einige Meter im Abseits zwar, aber er begleitet ihn bis in den Tod. Ein gebrochenes Denkmal der Nächstenliebe. Gibt es Beispiele unter Menschen? All jenen, welche den Tieren Gefühle absprechen, wünsche ich hier zu sein, neben uns zu stehen, diese unendliche Traurigkeit zu verspüren. Nie war ein Mensch tapferer als dieser Esel, nie war ein Mensch liebender, diese Feststellung stelle ich als bittere Wahrheit hiermit in den Raum.
Ich halte noch immer den Kopf; Tränen strömen über nasse Wangen, das Innere eine tobende See. Die Seele die Küste, ob deren Ränder den tobenden Wogen gewachsen sein werden? Die Beine verkrampft, ich klebe förmlich am Boden fest, als ich einen Arm spüre, der mich sanft zur Seite drückt. ER hat sich erhoben aus dem Sand, der Knochenmann, der seit dem Vormittag mit endloser Geduld auf diesen Augenblick gewartet hatte. Er flüstert einige Worte des Abschieds, und dann halte ich nur mehr eine leblose Masse in meinen Händen. Das Leben ist entwichen, der Körper bloß eine leere Hülle. Gevatter Tod, beinahe zärtlich, geleitet den Esel mit sicherer Hand in eine ferne Welt, bei jedem Schritt zerbrechen die letzten helle Farben im Schwarz der Nacht.
Ich wage nicht aufzustehen, würde am liebsten für immer hierbleiben. Nie mehr aus dem Albtraum erwachen, ein endloser Schlaf. Einzigen in den warmen Sand, geborgen im Schoß von Mutter Erde. Die Realität aber holt mich schnell zurück; schon im nächsten Augenblick heben wir den toten Esel auf den wartenden Wagen, sein irdischer Körper muss noch eine letzte Reise antreten. Er muss in die Wüste gefahren werden, weit nach draußen, wo ihn niemand finden kann, im Sand verscharrt, dort die letzten Ruhe findend.
Nun ist die Arbeit getan, und mit dem sprichwörtlichen Ende brechen die Dämme. Erwachsene Männer, viele davon, gefangen in Emotionen. Ich muss aus der Reihe wegtreten, so weit, bis mich das Dunkel verschluckt. Nur einen Moment, nur einen Atemzug. Dr. Dieng holt mich schließlich aus der absoluten Verlorenheit, drückt mich, ein stummer Trostspender. Auch Moussa und Dr. Facharani umarmen sich, der tobende Schmerz ist gleichzeitig auch eine Befreiung. Nie hätten wir auch nur eine Stunden Schlaf gefunden, hätten wir den Esel weiterhin in seinem Leid am Rande der schmutzigen Straße gewusst. Wissen Sie, wie viel Kummer und Schmerz Esel ertragen? Es ist ein Unfassbares mehr, als wir Menschen es uns überhaupt vorstellen können. In diesem Falle wäre der Leidensweg ein tagelanger gewesen, tiefste Agonie, höllische Pein. Keine Hoffnung, kein Erbarmen. Unbeweint. 
Ich werde nie den Jungen vergessen, der zum Auto kam, um sich nochmals zu verabschieden. Auch ihm wird dieser traurige Tag in Erinnerung bleiben, auch er hat geweint. Spätestens heute, glaub ich aus tiefstem Herzen, hat er die Liebe zu den Tieren entdeckt.
Dies ist die dunkelste Stunde vor dem Sonnenaufgang, fallen mir die Zeilen von Thomas D. aus seinem fantastischen Lied ‚Gebet an den Planeten‘ ein. Doch ob das Morgen auch nur einen Deut besser sein wird als das heute, zumindest für die Esel Mauretaniens, ich wage es in jenem Moment der tiefsten Trauer zu bezweifeln.
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Doch für ein Versinken in die trüben Gedanken bleibt vorerst nicht die Zeit; noch ist unsere Aufgabe für den Tag nicht erledigt. Es gilt zum Grab des Esels zu fahren, ihn dort abzuladen und den Elementen zu überlassen. Dr. Dieng muss sicherstellen, dass niemand sich am Toten labt.
Jetzt in der Nacht wirkt die Stadt noch trister als tagsüber. Wir durchqueren wieder die Abfallberge, beißender Rauch macht das Atmen schwer. Im Lichterkegel tausender Fahrzeuge tauchen immer wieder dunkle Gestalten auf, wie aus dem Nichts, Geister auf der Wanderung zwischen den Welten. Überall Kinder, in Schmutz gebadet, und Hunde. Hunderte. Dazwischen ein paar Katzen, im überall herumliegenden Müll nach Essbarem suchend. Ein Vorort der Hölle, für Mensch und Tier. Ein Auto stößt einen Radfahrer um, wir eilen zu Hilfe. Der Lenker fährt einfach weiter, ohne auch nur einen Moment anzuhalten. Gott sei Dank ist nicht viel passiert, nur das Rad ist kaputt. Wie viel wird es ihm bedeutet haben? Vielleicht war es sein ganzer Stolz, zerstört von einem Fremden, der es nicht einmal der Mühe wert fand um Entschuldigung zu bitten.
Dr. Dieng und Moussa sinnieren über die Staatspolitik; während ein Präsident in Geld badet, lebt das Volk in einer derartigen Triste. Eine Einsicht, welche den Tag abrundet, in all seiner Härte, in all seiner Qual.
Es ist jetzt tief nachts; irgendwo im Nirgendwo entladen wir den Esel. Er findet sein Grab dort, wo ständig eine sanfte Brise weht, wo die Hitze des Tages erträglich ist, wo Ruhe und Frieden herrscht. Wo kein Esel geschlagen oder von einem Fahrzeuglenker aus dem Leben gerissen wird. Wenn das allerdings alles ist was bleibt, alles aus dem man Trost zu schöpfen vermag, dann wird die Seele nie mehr wieder gesunden.
Ein Zivilpolizist hält uns beim Verlassen der Ruhestätte. Er hat uns am entlegenen Strand beobachtet, vermutet uns als Drogenhändler. Obwohl alleine, zwar bewaffnet, aber stark in der Unterzahl gegenüber uns vieren, stellt er sich den vermeintlichen Kriminellen. Mut hat der gute Mann, ohne Frage.
Endlich zu Hause; endlich im Motel. Wir sitzen noch eine halbe Stunde auf der Terrasse, ein heißer Tee, ein paar Züge von der eilig gedrehten Zigarette. Fast wortlos, in Gedanken gefangen.
Es gilt aufzustehen, den Staub von der Hose zu wischen, voranzuschreiten; krummer als zuvor zwar, das Haar wieder ein bisschen weißer, gebeugter vielleicht, aber immer noch nicht gebrochen. 
Denn, ein Gedanke spendet tiefen Trost, ein Einfall gibt Anlass zum Mut – was wäre, wenn wir nicht an jenem Tag an jenem Ort gewesen wären? Nicht auszudenken..
Der arme Esel, er wird nun an einem Ort sein, wo er endlich Frieden finden kann. Wenn ich nachkomm‘, so versprach ich es ihm in seinen letzten Zügen, wird ich nach ihm sehen. Wir werden zusammen auf einer saftigen Wiese sitzen und kein Wort verschwenden über das Gewesene. Ich werde ihn fest umarmen und bittere Tränen weinen, ganz bestimmt. Ich hoffe so sehr, er weiß, wir haben nur das Beste für ihn gewollt, und hoffentlich auch getan. Schwer ist die Schuld, welche derartige Entscheidungen mit sich bringen, sie lastet wie ein riesiger Stein auf den Schultern. So ist das Leben, hat Dr. Dieng gemeint, und wahrscheinlich hat er recht. Aber diese Einsicht alleine, die schafft es nicht, den Riss zu kitten, welchen das Herz abbekommen hat. Einen mehr.
Wie wird es dem Freund ergehen? Man wagt kaum darüber nachzudenken; aber eines ist sicher – in nicht allzu langer Zeit, da werden sich die Beiden wiederfinden, und dann wird sie nichts und niemand je wieder trennen können. Bis in alle Ewigkeit!
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